Raus aus dem Krankenhaus zurück in den Alltag. „Den“ Alltag gibt es aber nicht mehr. Alles ist neu. Der Körper spielt nicht mehr mit, gnadenlos fordert er seine Pausen ein, sonst heißt es:
3 Tage geht gar nichts mehr.
Das Gesundheitssystem bietet die Psychotherapie und psychiatrische Betreuung, vielleicht eine Selbsthilfegruppe. Einen Arzt zu finden, der Ihnen Physiotherapie verschreibt, ist mindestens schwierig, wenn überhaupt möglich.
Eine Haushaltshilfe...illusorisch. Das war’s.
Also... wenn Sie dann überhaupt einen Therapieplatz finden und eine(n) Psychiater*In für die ambulante Betreuung. Die Wartezeit beträgt meist mindestens 4 - 6 Monate.
Jeden Morgen brauche ich 3 Stunden, um „alltagstauglich“ zu werden. Es ist nicht die Frage, ob ich zappel, ob ich brenne, was macht meine Feinmotorik? Ich muß meine Beine immer lang machen, mit angewinkelten Beinen zu sitzen ist schier unerträglich.
Jeden Morgen immer die gleich Frage: Wie kann ich heute damit umgehen, meine Psyche mit meinem Körper synchronisieren, gucken, wie ich durch den Tag komme.
Jeden Morgen die Frage:
Wie kann ich heute überleben?
An guten Tagen habe ich ein Zeitfenster von 1 -2 Stunden, während derer ich nach professionellen Maßstäben leistungsfähig bin.
Der Rest... na ja.
Also teile ich mir meine Möglichkeiten ein. Welche selbst gestellte Aufgabe verlangt welche Fähigkeiten im Bereich Grob/Feinmotorik, Konzentration und so weiter und so fort.
Und immer schön die Pausen einhalten (siehe oben).
Therapeutische Eigeninitiative
Keine Zeit zum Grübeln
therapeutische Eigeninitiative
Nachsorge
Das Wichtigste überhaupt... meine „Fröhlichen Depris“, meine „Eltviller Depris“, mein „Marburger Klinik-Klüngel“. Gruppen oder Grüppchen Depressionskranker. Seit nunmehr 2018 treffe ich meine Leidensgenossen in losen Abständen. Wenn wir über Depression und Trauma reden, ist es kein Klagen, es ist ein Kompetenzdialog. Du mußt nichts erklären, es gibt keine Fragezeichen und kein Unverständnis.
Für einen Moment ist man einfach ... normal.
Und wenn es eine neues Problem mit Behörden, Ämtern etc. zu klären gibt, in diesen Gruppen findet sich fast immer ein Antwort.
therapeutische Eigeninitiative
Sport
In meinem letzten stationären Aufenthalt hatte ich gelernt, meine Beschwerden zu integrieren und nicht mehr gegen sie anzukämpfen. Das versetzte mich in die Lage, wieder zu joggen, mein Stretching-Programm durchzuziehen und manchmal sogar eine Einheit Qi Gong zu machen. Oder endlich wieder eine Runde Fahrrad zu fahren.
Was war ich froh, daß das alles wieder möglich wurde. Ich war auf einem guten Weg...
Voraussetzung dafür ist ein gewisses Maß an mentaler Kondition... und dann kam Corona. Seit dem geht nichts mehr.
therapeutische Eigeninitiative
Hypnose
Zugang zur Hypnose habe ich während meines Aufenthaltes in der Uni-Klinik Marburg gefunden.
Dabei hätte ich geschworen, dass man mich nicht hypnotisieren kann. Aber ich war verzweifelt genug, um mich darauf einzulassen. Und habe mit der Trance einen Zustand gefunden, in dem ich nicht zappele und keine Schmerzen habe.
Selbst im Schlaf zucke und zappele ich, daß ich manches Mal davon wach werde - oder mein Partner.
Im Bereich Hypnose ist vieles im Internet verfügbar. Für mich das wichtigste sind die Stimme, die Langsamkeit (sich Zeit nehmen...) und die Art der Einleitung.
Ich hatte viele, sehr entspannende Stunden, aber auch manche Suggestionen (der „eigentliche“ Kern der Hypnose), die ich so schlecht oder ärgerlich fand, dass ich davon wach geworden bin. Inzwischen höre ich mir zunächst (im Schnelldurchlauf) die eigentliche Suggestion an, ob mir der Text bzw. Inhalt zusagt.
Vor Corona habe ich mir fast täglich eine Hypnose „gegönnt“. Jetzt, in Corona-Zeiten, schaffe ich es leider nur noch ein- oder zweimal die Woche. In das „Funktionieren“ flüchten als Überlebensstrategie ist im Moment wichtiger.
ARTE-Doku: Die wunderbaren Kräfte der Hypnose
Immer mehr Ärzte und Chirurgen nehmen bei einer Operation die Hypnose als Ergänzung zur Anästhesie zur Hilfe. Gerade bei der Narkose und Schmerzbehandlung gewinnt Hypnose auch bei Schulmedizinern verstärkt Anerkennung. Kann sie auch bei psychischen Belastungsstörungen wie Traumata, Phobien, Sucht, Depressionen oder Burnout helfen?«
therapeutische Eigeninitiative
Körperreise
Die Ärztin und Psychotherapeutin Sabine Fruth hat im Rahmen der Hypnosetherapie das Konzept der Imaginären Körperreise (Youtube) entwickelt.
Vereinfachend gesagt ist die Idee, daß man im Rahmen einer Trance als Miniatur seinen eigenen Körper von innen bereist und sich mit dem Schmerz/der Krankheit „vor Ort“ auseinandersetzt.
Mir hat dieser Weg sehr geholfen, Bilder - Erklärungsmodelle - für meine Krankheit zu finden und in die Psychotherapie einzubinden. Sobald ich es einrichten kann, werde ich auch einen persönlichen Termin bei Frau Fruth vereinbaren.
Das Buch zu diesem Thema finden Sie hier.
therapeutische Eigeninitiative
Ergotherapie
Habe den Mut, endlich das zu tun, von dem alle anderen gesagt haben: Du kannst das nicht.
So - sinngemäß - laß ich ganz Anfang meiner Erkrankung in: Josef Kirschner - Die Kunst, ein Egoist zu sein.
Was für ein fürchterlich, reißerischer Titel. Geht es doch „nur“ darum, den eigenen Bedürfnissen Raum zu geben, sich nicht zu verbiegen.
Eines der ewig „depressiven“ Themen: Wenn wir ständig unsere eigenen Bedürfnisse leugnen, werden wir krank. Nur wenn ich meinen Bedürfnisse ausreichend Raum gebe, kann ich für andere da sein, ohne mich zu verlieren.
Wer sind nun „alle anderen“, gerne, sehr gerne, Eltern und Großeltern, Lehrer, Ausbilder...
Ich hatte endlich den Mut.
Meine ersten Versuche handwerklicher Tätigkeit fanden im schulischen Werkunterricht statt. Eine Mitschülerin und ich hatten uns in den Werkunterricht reinprotestiert, weil wir nicht einsahen, daß wir als Mädchen zwangsläufig dem Wahlpflichtfach Handarbeiten zugeteilt wurden. Tja... es wurde nicht gerade mit Unterstützung durch den Lehrer honoriert. Und meine ersten Arbeitsversuche wurden im elterlichen Haushalt schallend belacht... und sind dann im Sande verlaufen.
Meinen nächsten Versuch habe ich ca. 45 Jahre später gestartet: von Januar bis Mai 2018 habe ich die 55 guten Stunden, die ich in 14 Wochen hatte, in dieses Projekt investiert:
November 2020: in Arbeit....
März 2021: Bürorenovierung
Nachher:
Jeweils ein altes Regal als Erinnerung an die Firmengründerin sind geblieben und wurden mit drei verschiedenen Schrankvarianten von Ikea umbaut. Verbindendes Element sind Multiplexplatten.
Über dem Kühlschrank noch zusätzlich Stauraum geschaffen.
Vorher:
Zwei alte Regale rechts und links vom Schreibtisch (eines ist auf dem Foto bereits demontiert) und zwei kleine Regale an der linken Wand.
Garderobe nach Mondrian:
2 Regalböden an der Wand befestigen, 2 Vinyl-Fußmatten draufkleben, Garderobenhaken anbringen - fertig.


Oktober 2021 - wenn gar nichts mehr geht

Wenn gar nichts mehr geht… und dann eine Idee.
Creativität - den Fokus des Denkens in ein anderes Hirnareal bringen - an diesem schwarzen Freitag (m)ein Weg aus der Grübelschleife und weg vom übermächtigen Suizidgedanken.

Mit dem Nähen aufhören, geht nicht... aber irgendwo muß alles hin, also: auf zu etsy...
Mottenmäuse… sie verstecken sich im Kleiderschrank und verscheuchen unliebsame Mitbewohner.

2022 - wenn (vorerst) keine handwerklichen Dinge anstehen: ran an die Nähmaschine(n)





Und weil ich mit meiner persönlichen Ergotherapie nicht aufhören kann.... und darf - Irgendwo müssen die Sachen ja hin, also auf zu etsy: UCIdieKreative.
Ein erstes der so wunderschönen Hasenkissen ist an einem ganz schwarzen Tag entstanden - die Dunkelheit mit schönen Dingen bekämpfen!
2023 - Den Schmerz mit Schönem die Stirn bieten.

Abendkleid für eine junge Dame
Sommerbluse mit prominentem Karo - und in Arbeit: ein rotes Kleid.

Ein HiFi-Rack

… und noch eins

therapeutische Eigeninitiative
Gönn Dir was
Es muß gar nichts großes sein... Selbstfürsorge, SICH SELBST etwas gönnen...
Vielleicht einfach mal ein tolles Kosmetikprodukt, eine besondere Schokolade, irgendetwas, was man sich im Alltag nicht gönnen würde.
Oder was Verrücktes, etwas Unerwartetes. Was ist es bei Ihnen... vielleicht eine Tanzstunde, ein Trommelworkshop, ein Kochworkshop, eine Sprache lernen, endlich ein Schwimmkurs Kraulen... Machen, einfach machen. Positive Marker setzen.
Mein Unerwartetes: Es gibt nur ein Sache, die mich mit absoluter Sicherheit zum Strahlen bringt...
Wir wohnen in einem Umfeld mit sehr guter Anbindung an den ÖPNV. Darum haben wir nur einen PKW, es gibt keinen noch so guten Grund für einen Zweitwagen.
Darum dachte ich, es wäre eine gute Idee, mir zur Ausweitung des Mobilitätsradius ein E-Bike zu kaufen... das ist dabei rausgekommen:
therapeutische Eigeninitiative
Tu Dir Gutes
Nimm Dir Zeit für Dich selbst. Tu Dir Gutes. Immer durch die Dusche hetzen? Warum? Einfach mal in aller Ruhe im warmen Regen stehen. Oder sich eine Stunde in die Badewanne legen, sich eine Auszeit nehmen. Kein (Ehe)Partner, keine Kinder, nur du selbst.
Oder mit einem Buch zurückziehen und mal eine Stunde nicht ansprechbar sein. Zeit für mich. Vielleicht mal ein Kurztripp, ganz allein, ab in die Wellness?!
„Allgemein gesprochen schaut man viel zu wenig aufs Meer“ sagte eine Leidensgenossin. Schweigen. „Wann fahren wir?“ habe ich gefragt.
Es gibt für mich im Moment nur zwei Orte, an denen ich einfach "sein" kann, ohne den ständigen Kampf ums Überleben und Durchhalten, ohne die ständige Präsenz der Krankheit. Die Nordsee ist einer davon.
Depression tu dir gutes
Spektrum der Wissenschaft - Kompakt:
Depressionen - Wege aus dem Dunkel
IMAGINATION - Mentales Vorkosten weckt die Lebensgeister
"Eine Fantasiereise mit positiven Bildern kann Depressiven helfen, aus dem Stimmungstief herauszukommen."
"Das mentale Vorkosten zukünftiger Ereignisse – vor allem die Erwartung der damit verbundenen positiven Gefühle – kann depressive Patienten offenbar dazu motivieren, wieder aus dem Haus zu gehen. Die Forscher halten Imaginationsverfahren deshalb für eine gute Ergänzung zu gängigen Depressionstherapien."
Als sich der zweite Lockdown abzeichnete, habe ich mir etwas Gutes getan. Zwei Tage nach meinem 60. Geburtstag werde ich auf Reisen gehen. Ich habe mir meine ”Traum”reise gegönnt. Und wenn alles um mich herum schwarz wird, stelle ich mir vor, wie es sein wird...
therapeutische Eigeninitiative
Die zitternde Frau
Im Sommer 2020 haben mir Freunde ein Buch empfohlen. Es ist für mich eines der wichtigsten, das ich bisher gelesen habe:
Siri Hustvedt: Die zitternde Frau. Mehr über Siri Hustvedt finden Sie hier.
Fast drei Jahre nach dem Tod ihres Vaters, während einer Laudatio, beginnt sie zu zittern.
„Es schien, als hätte irgendeine unbekannte Macht plötzlich meinen Körper übernommen und entschieden, er müsse einmal ordentlich und anhaltend durchgerüttelt werden.“
„Die zitternde Frau“ beschreibt ihre Suche nach Antworten, sowohl in ihrer Lebensgeschichte als auch in der Neurologie und Psychologie. Ich fand es wahnsinnig interessant und hilfreich zu lesen, wo die Neuropsychatrie heute steht, wie viele Erkrankungen einfach auch heute noch rätselhaft sind. Und habe viel Inspiration mitgenommen.
"Was aus Wissbegier über die Mysterien meines eigenen Nervensystems
begann, hatte sich zu einer großen Leidenschaft entwickelt. Intellektuelle
Wissbegier über die eigenen Krankheit entsteht mit Sicherheit aus dem
Wunsch nach der Beherrschung. Wenn ich mich nicht heilen konnte,
konnte ich wenigstens anfangen mich selbst zu verstehen." (Seite 15 ff)
"Ich erinnere mich" als Feature des "automatischen Schreibens" ist ein Thema, das Siri Hustvedt ausführlich beschreibt:
"Dann meldete ich ich als ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Payne Whitney
Psychiatric Clinic und gab den Patienten einmal in der Woche Unterricht
im Schreiben." (Seite 15 ff)
"Wenn die Patienten und ich unser eigenes “Ich erinnere mich” schreiben,
geschieht etwas Bemerkenswertes. Schon das Schreiben der Wörter ich erinnere mich
erzeugt Bilder oder Ereignisse aus der Vergangenheit, häufig solche, an die wir
seit vielen Jahren nicht gedacht haben... Eine Erinnerung führt oft zur nächsten.
Eine Assoziationskette ist in Gang gesetzt." (Seite 108 ff)
"Ich erinnere mich zu schreiben, scheint anders zu wirken, als die Wörter ich erinnere mich bloß zu sagen. Ich war fasziniert von dem Fall eines dreizehnjährigen Jungen... obwohl er eine genaue Erinnerung an sein Leben vor dem (Hirn)Tumor und an die Behandlung hatte, war er unfähig,
sich an sein Leben danach zu erinnern... Während Neil die Buchstaben zu Papier brachte,
war er fähig, aufzuschreiben, was der Rest von ihm vergessen hatte.
Der sprechende Neil hatte Amnesie. Neils schreibende Hand nicht." (Seite 110 ff)
Im August 2020 habe ich dann auch begonnen... Ich erinnere mich... Es hat dann noch vier Wochen gedauert, bevor dieser Drang einsetze, zu schreiben. Ich konnte gar nicht so schnell schreiben, wie die Gedanken flogen.
Eine Tür ist aufgegangen... Vor meiner Erkrankung, vor der Therapie, vor ich erinnere mich, gab es nur Erinnerungen an Verletzungen in Kindheit und Jugend. Aber jetzt kommen andere Erinnerungen zurück, selbst aus frühester Kindheit, noch aus der Vor-Scheidungszeit der Eltern. Und es sind fast nur schöne Erinnerung, die zurück an die Oberfläche kommen. Es entsteht ein Gleichgewicht, alles kommt ins Lot. Was für ein Geschenk.
Hat mein Zittern etwas damit zu tun, daß ich die Rolle des „Familienoberhauptes“ angenommen habe, die letzten 30 Jahre immer wieder durchs Land gefahren bin und alle besucht und alles zusammengehalten habe?
Ich höre damit auf...
"... wurde ich mit der unterschwelligen Einsicht konfrontiert, daß seine (des
verstorbenen Vaters) Abwesenheit dauerhaft, unwiderruflich war, ohne mir der in mir
stattfindenden Wende bewußt zu sein? Haben mich die Gesichter von Menschen,
die ich seit meiner Kindheit kannte, in ein früheres Selbst zurückgeworfen?
Hat das Zittern etwas damit zu tun, daß ich den Platz meines Vaters einnahm?" (Seite 169 ff)
"Ich bin der Ansicht, dass der Mensch vom Unbekannten gelebt wird. In ihm ist ein Es,
irgendein wunderbares, das alles, was er tut und was mit ihm geschieht, regelt.
Der Satz „ich lebe“ ist nur bedingt richtig, er drückt ein kleines Teilphänomen
der Grundwahrheit aus: „Der Mensch wird vom Es gelebt“ (Seite 162)
(Groddeck, Georg: Das Buch vom Es, Erstdruck 1923, Neuausgabe 2016, Hoffenberg)
"Le Doux: “Das Problem besteht darin, dass nicht klar ist,
wie die Veränderungen auf der neuralen und der psychischen Ebene
miteinander zusammenhängen.” (Seite 199)
(LeDoux: Das Netz der Persönlichkeiten, 2006, dtv)
Warum bin ich erkrankt, meine Brüder aber nicht? Ist das einer der Gründe:
"In seinem nachhallenden Aufsatz “Trauer und Melancholie” unterscheidet Freud
zwei Formen von Kummer. Die trauernde Person, sagt er, hat einen bewußten
Verlust erlitten, und es ist die Außenwelt, die ihr während der Trauerzeit grau
und bedeutungslos erscheint.
Bei der Melancholie dagegen hat die leidende Person starke konflikthafte und
in vielen Anteilen unbewußte Identifikationen mit dem Verstorbenen, so daß
der Verlust nicht außen bleibt, sondern verinnerlicht wird - eine seelische Wunde."
(Seite 214 ff)
(Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie, ebook Ausgabe 2012,
Henricus Edition Klassik)
Liebe A., nur für Dich zitiere ich dieses Gedicht von Theodor Roethke: (Seite 222)
Und suchte ich Erleichterung
von diesem monotonen Schmerz,
die gespannten Nervenstränge, die
hinauf zur Kehle führen,
ließen keinen Laut heraus:
nie wird ein andres Ohr berühren,
was zitternd mir den Schädel birst.
Weitergegebenes Kriegstrauma - wie funktioniert das? Die Forschung ist sich nicht eins. Es gibt einige Denkansätze u.a. in der Psychologie und Genetik. Mit den Ausführungen von Siri Hustvedt habe ich ein erstes, abstraktes Verständnis für die Prozesse der Weitergabe entwickelt.
Ich bin im März 1962 geboren. 1961 begann der Bau der Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland, 1962 war das Jahr der Kuba-Krise. Ich erinnere mich, daß meine Mutter mir erzählte, sie habe Todesängste wegen des politischen Weltgeschehens ausgestanden.
9/11, der Angriff auf das World-Trade-Center in New York und das Pentagon... Wir hatten im Büro noch gar nichts mitbekommen. Das Telefon schellt. Meine damals 65-jährige Mutter weinend: "Der Dritte Weltkrieg bricht aus."
“Als ihr klein wart, habe ich in euren Gesichtern geschwelgt” zitiert Siri Hustvedt ihre Mutter. Ist das Trauma meiner Mutter so in meinen Kopf gekommen?!
“Neurobiologen wissen, dass dieser visuelle Austausch zwischen Mutter und Kind die Gehirnentwicklung des Säuglings fördert. Allan Schore nennt das Hin und Her zwischen
Mutter und Kind “psychobiologische Einstimmung” und bezieht sich, wie vor ihm
andere, mit dem Einzelnomen Dyade auf Mutter und Baby - ein Schleife, zwei in
einem. “Das starke Gefühle ausdrückende Gesicht der Mutter ist die mächtigste
Quelle viso-affektiver Information”... “und bei Interaktion von Angesicht zu
Angesicht dient es als visuell prägender Stimulus für das sich entwickelnde Nervensystem
des Säuglings”. Unser Leben beginnt als wortloser Dialog, und ohne ihn würden
wir nicht erwachsen." (Seite 154 ff)
(Schore, Allan: Affect Regulation and the Origin of the Self: the Neurobiology of Emotional Development, 1994, Hillsdale, Neuauflage 2015, Taylor & Francis Limited)
"Viele haben inzwischen von den sogenannten Spiegelneuronen gehört, die Vittoria Gallese,
Giacomo Rizzolatti, Leonardo Fogassi und Luicano Fadiga 1995 bei Makakken entdeckt
haben. Diese ... Neuronen feuern, wenn ein Affe etwas tut, zum Beispiel eine Banane
packt, aber sie feuern auch, wenn der Affe dieselbe Handlung beobachtet, während er
selbst nichts tut. Daher überrascht es nicht, dass Wissenschaftler ein Spiegelsystem
beim Menschen nachgewiesen haben.
Was dies alles genau bedeutet, wissen wir nicht, aber die Entdeckung der
Spiegelneuronen hat zu Spekulationen geführt, sie seien an allem, von der Sprache
bis hin zur Empathie, beteiligt." (Seite 158 ff)
(Gallese, Fadiga, Fogassi, Rizzolatti: Action Recognition in the Permotor Cortex,
1996, Brain 199, Seiten 593 - 609.)